Anne-Dominique Hubert


Der verlorene Körper: Zu den Arbeiten von Anne-Do Hubert

Von Martin R. Dean 

Künstler und Künstlerinnen hinterlassen Spuren, Abdrücke, die von ihrer Arbeit und zugleich von ihrer Abwesenheit erzählen.  Das Stichwort von der Natalität als Metapher aufnehmend, sehe ich Anne-Do Huberts  Arbeiten nicht sosehr als figurative Setzungen von Bildern, Figuren oder Visionen – obwohl sie das auch sind – sondern als Zeugnisse einer selbstgeburtlichen Anstrengung. Jemand versucht, aus sich heraus zum Anderen zu gelangen; jemand will aus dem Amorphen, das Nietzsche das Dionysische nennt, zur apollinischen Form kommen. Diese Verausgabung, dieser Wille zur Individuierung ist jeder künstlerischen Anstrengung eigen. Erst wo Form als etwas Geleistetes, Gefundenenes im fertigen Abdruck spürbar wird, wird aus dem Zufall und dem Glücksfall ein Fall von Kunst. 
Anne-Do Huberts „Handschrift“, die Eigenart ihrer Modelle und Figurinchen aber ist das eigentümliche Oszillieren zwischen Form und Nichtform. Das – vielleicht weibliche? – Zögern und Innehalten der nach aussen gesetzten Wesen vor ihrer endgültigen Gestalt. Der angehaltene Atem mitten in der Individuation, deren formale Ausprägung fragil bleibt – in leichtes Seidenpapier geschlagen, in verletzliche Pappmaché gegossen. Flüchtig und durchscheinend auf eine hohle Innenform. Deshalb wirken alle Wesen tot und lebendig zugleich; embryonal und leichenhaft in einem, dem erweckenden Blick entgegenlauernd. 
Bedrohlich, belustigend, grimassierend und den Blick, den man auf sie wirft verhöhnend, treten die Gesichter aus der Wand. Greisengesichter, Kindergesichter, alterslos wie die sympathischen oder auch erschreckenden Gestalten in Science-Fiction Filmen. Der Blick des Betrachters mag sie zu Individuen machen, aber stärker bleibt ihr Drang zurück ins Amorphe. 
Auch das Völkchen der Puppen, die auf dem Boden oder in den Lüften tanzen und Kapriolen vollführen, erscheinen als Seelenträger - personae. Masken von Augenblicksregungen, von Gefühlen, von Haltungen und ephemeren Erfahrungen. Auch ihr Wesen oszilliert zwischen dem von Puppen, Marionetten und totem Spielgerät. Kleingötter und Miniaturdämonen, Kinder und geschrumpfte Greise und Greisinnen, überschreiten und umspielen sie die Grenze zum Individuellen. Ihre Kleinheit täuscht nicht über den Schreck hinweg, den ihr epidemisches, stummes Auftauchen hat. Als kämen sie aus den Ritzen der Wände, den Klaffen des Gemäuers, den Falten der Zeit gekrochen, erfüllt ihr lautloses Geschrei den Raum.  

„Das Werk ist die Totenmaske der Konzeption“, schrieb Walter Benjamin. Anne-Do Huberts  Artefakte sind Totenmasken einer Konzeption, die weniger auf Ab-Bildung denn auf Ab-Druck aus ist und die damit die Erfahrung einer Beziehung offenlegt. Es ist die Beziehung zwischen der Künstlerin und dem Prozess des Kunstschaffens. Die Werke wollen und sollen den Blick nicht davor verstellen, dass Kunst immer Teil einer Selbstverlebendigung ist, bei der die Aura des Todes von der Künstlerin auf ihr Werk übergeht. Man muss es nicht wissen, doch bleibt es signifikant, dass die Künstlerin auch in ihrem anderen Beruf als Therapeutin auf  dem Gebiet der Selbstgeburten und Selbstverlebendigung tätig ist. 
Dass den an der Wand aufgehängten Abdrücken, den Torsi weiblicher Körper ihre Matrize als Fotokopie eingeschrieben ist, macht auch sie als Individuen zuletzt unglaubwürdig: keines dieser Reliefs, kein Abdruck behauptet eine von der Künstlerin/Prokreatorin unabhängige Existenz. So verschieden die Arbeiten auch sind, sie verweisen alle zurück auf das Ungeschiedene, den (verlorenen) Körper der Künstlerin. Ihre Form ist Erinnerung, ein Stück Trauerarbeit, transparent immer zum abwesenden Körper.
Im geläufigen Sinne ist die Urmatrize das Gegenteil einer Fotokopie. Es mutet ebenso ironisch wie bedeutsam an, dass Anne-Do Hubert die Idee des Vervielfältigten  an den Anfang setzt. So einfach, wie sie in der Genealogie aufscheint, ist die Ordnung des Lebendigen im Ästhetischen nicht zu haben. Ja, wenn die Urmatrize nichts als eine Vervielfältigung ist, selbst Abbild eines Abbildes, dann behauptet sich die Kunst als Antithese jeglicher Organizität. Denn das Urmodell all dieser „Abgüsse“, der Körper, hat viele „Mütter“, gewaltsame und verletzende ebenso wie bergende und schützende.   
Anne-Do Hubert inszeniert geradezu diesen artifiziellen Schwindel, denn wo der Abdruck der einer duplizierten Kopie ist, da verliert auch der Körper seine (schein-)heilige Unverletzlichkeit und wird offen für unsere Fragen.   
 Auch den Abdrücken also ist der Widerspruch gegen ihre Autonomie, gegen ihr Abgelöstsein gleich doppelt eingeschrieben. Ihre Ähnlichkeit ist ein Bluff, nichts als der serielle Widerschein einer das Original, die Matrize negierender Gleichheit. Die Ähnlichkeit verweist vielmehr auf einen Zustand, in dem es noch keine Erinnerungen und prägenden Erfahrungen gibt – auf Vorindividuelles. Deswegen ist den mutmasslich verwandtschaftlichen Beziehungen der kalte Schauder des Seriellen beigegeben; das Völkchen scheinbar Ähnlicher trägt das Antlitz von Puppen. 
       
Im Zentrum also steht der Körper der Künstlerin, denn die in sich negierten Abbilder und Abdrücke verweisen auf ihn als bedürftigen zurück. Vielleicht ist der geheimste Wunsch dieser Kunst der, den Körper komplettieren, den Schmerz des Unfertigen zu mildern. Weil der versehrte und bedürftige Künstlerinnenkörper das geheime Zentrum dieser Kunst bildet, rückt diese oft in die Nähe zum Krieg, zur Gewalt, zur Verstümmelung. Am eindrücklichsten in jenen „Bildern“, in denen Babygesichter in Kissen gebettet versinken. Auch hier ist der Kampf um Individuation ersichtlich. Aber schneidender als sonstwo fallen diese Kindergesichter auf den Kissen in jenen Schlaf, der vom Tod nicht mehr unterscheidbar ist. Diese Ruhe ist Totenruhe, dieser Zerfall in Seidenstoff verkehrt die Idylle, die schlummernde Kleinkinder abgeben, auf einen Blickschlag ins Erschrecken. Es ist dieser Blick, der uns die Augen aufschlägt für die Welt, wie sie heute ist. 


© Martin R. Dean