„entre‐temps“ Anne‐Dominique Hubert
4. – 25. September 2011
Eröffnung 4. September, 11.00 Uhr
„Bevor ich darüber nachdachte, wußte ich es noch“ (Augustinus)
In einem kurzen Telefongespräch über ihre Arbeit fand Anne‐Dominique Hubert plötzlich zu dem einfachen Satz: „Es ist das Abwesende des Anwesenden, oder Anwesende des Abwesenden“.
Anne‐Dominique Hubert ist eine philosophisch poetische Künstlerin. Sie stellt sich in den Raum zwischen den Dingen, den Zeichen und den Worten. Im Raum als Ganzes und Unendlichem aber steht die Zeit. Ich möchte deshalb das Werk der Künstlerin in einen größeren Zusammenhang stellen, ausgehend von zwei wesentlichen Sichtweisen. Von außen gesehen ist unser kleiner Planet ein winziger Himmelskörper innerhalb eines Systems von Universen und einer Milchstrasse von Milliarden von Sternen. Er ist im neuen Weltbild aus dem Zentrum geglitten und bewohnt von Millionen winziger Menschen, denen nur Bruchteile von Sekunden
gegeben sind, um ihre Erdenzeit mit Sinn zu erfüllen. Es ist dies die Vogelperspektive. Die andere wäre die des Frosches, gewissermassen aus dem Schilfrohr heraus. Sie ist überschaubar und zunächst beschränkt auf die verfügbaren Horizonte.
Diese aber können weiter oder enger gefaßt werden, jeweils im Überschreiten der eigenen Grenzen als erste Kontaktnahme zum Anderen, erstes Transzendieren, Neuformulierung und Umformung von Vorstellungen. Für den Suchenden und Fragenden entstehen Sinn‐Zusammenhänge. Ein jeder fragt anders und gelangt zu individuellen Richtungsänderungen und Erkenntnissen. Er wird sich da immer auch rückwärtig verstehen müssen, um seine Schau der Dinge dieser Welt und Ziele nach vorn weiterführen zu können.
Die Zeit
Anne‐Dominique Hubert tastet sich vor im Gestalten einer körperhaft lebendigen Kunst, der eine willkürliche wie unwillkürliche Notwendigkeit zueigen ist. Sie tendiert dabei zu einer imaginären Ordnung, die bestimmt wird durch den Faktor Zeit in seiner Gegensätzlichkeit, zum einen der kosmisch effektiv messbaren Zeit, zum anderen der Erlebniszeit. Es geschieht im Spiel mit der Zeit, ihrer Dehnbarkeit, ihrer Raffung bis zu deren Aufhebung, ein Spiel am Rande der Unendlichkeit und des Unfaßbaren, das gleichermaßen von Bedeutung für beide Kunstformen ist, die Musik und die bildende Kunst. Das zeigt sich bereits in Begriffen wie: Intensität, Dichtigkeit, Rhythmisierung, Klangfarbe. Hier entfalten sich die Energien.
Anne‐Dominique Huberts Arbeiten basieren auf Beobachtung und Experiment. Sie errichtet zugleich ein Denkgebäude, in dessen Mitte das Erfassen steht, was wiederum den zeitweiligen Rückzug aus dem Lärm der Welt bedingt hin zu Orten der Stille. Die Künstlerin findet sie an Griechenlands Küsten im Licht und mediterranen Blau von Himmel und Meer, an dessen Horizont sich, mit einem Bild der Antike, Uranus und Gaia vermählen. Das Auge verliert sich im Unendlichen als sinnliche Erfahrung der nicht meßbaren Zeit. Sie wird zur Einheit von Vergangenem, Gegenwärtigem und Zukünftigem, mit Augustinus: memoria, contuitus und expectatio „denn es sind diese drei Zeiten der Seele, anderswo sehe ich sie nicht: Gegenwart von Vergangenem als Erinnerung, Gegenwart von Gegenwärtigem als Anschauung, Gegenwart von Künftigem als Erwartung.“ (Augustinus)
Farbe und Struktur
Die griechischen Küsten werden für Anne‐ Dominique Hubert zum Ort der Inspiration. Die Künstlerin erforscht das Spiel von Licht und Schatten, den Wind, den Sand, das Figurative am Boden, den Abdruck. Sie findet zu Farben von besonderer Klangsinnlichkeit, sei es das kühl transparente, eindeutig zum Rot tendierende Rosa in den „Broderies“ (Parterre und 1. Etage), das die Morgenröte assoziiert, Aurora ‐ musis amica ‐ , oder das rätselhafte, heiter glänzende Gelb, dem auch Labilität und schrille Provokation zueigen sein können. Anders und leiser klingt das ins Unendliche weisende Dunkelblau, das die Ruhe und Neigung zur Vertiefung besitzt bis hin zum schweigenden Schwarz im hier gezeigten neuen Zyklus „Fragmente“ (Parterre). Diese Bilder lassen das Blau vielleicht noch erahnen durch den blauen Faden der Steppnähte. Die Künstlerin arbeitet in Zeitmessungen und Schichtungen, indem sie immer neue Formen generiert, die sich aus sich selbst heraus entwickeln. Sie schneidet, zerschneidet, fügt zusammen und näht. Dabei erscheint der Bewegungsablauf der Nadelführung symbolisch für den Kreis und damit die Linie, die durch sich selbst alles darstellt oder mit einem Wort des großen Religionsphilosophen der Renaissance Nikolaus von Kues, genannt Cusanus: „Alles ist, was aus einer Linie werden kann.“ Dergestalt entsteht ein Bildwerk der Metamorphosen von grosser Strahlkraft, Transparenz und Transzendenz. Es ist fragil, seine Oberflächen verletzlich.
Innere und äußere Strukturiertheit bewirken Bewegung und Leben. Diese Bewegung unterliegt einem bereits angesprochenen inneren Ordnungssystem, einer eigenen unauffälligen Rhythmisierung. Die Bilder gewinnen dadurch den Anschein der Zeitlosigkeit, indem sich die in dieser Weise organisierte Zeit selbst überwindet. Dieser Gedanke führt mich als Musikerin direkt zu Olivier Messiaen. Seine Musik liegt in einem scheinbar unstrukturierten Zeitkontinuum. Der Rhythmus emanzipiert sich darin zu unbegrenzt variablen Formen, die von Messiaen der Natur abgelauscht, auf Anne‐Dominique Hubert übertragen von ihr adaptiert
worden sind.
Hierher gehören die besonders zarten, transparenten Arbeiten von schwebender Leichtigkeit und scheinbarer Schwerelosigkeit im offenen Raum „De temps à autre“( Kellerraum). Diese Schmetterlingsflügeln gleichenden Formen sind fast ohne Farbe, von einer ruhig warmen beige‐grauen Tönung, gleichsam als Ausdruck einer seelischen Gestimmtheit im Denken.
Nur der Mensch, der sieht, ist im Mitbesitz des Kosmos.
Die subtilen Feinheiten und das Taktile im Werk Anne‐Dominique Huberts sind Versuche der Annäherung, diesen erkennend zu erschließen durch Angleichung der Darstellung. Dies sei zugleich eine abschließende Deutung der Installation zusammengenähter, immer neu geschnittener Figuren aus früheren Werkgruppen in der 1. Etage (17 modules, papier japon). Sie ergeben, mit Anne‐Dominique Hubert gesprochen, den Eindruck zerklüfteter Planeten.
Der einleitende Gedanke des Seins in der Zeit von Augustinus sei hier wieder aufgenommen, in dem das „Bevor“ enthalten ist, um ihn neben einen Textteil aus Dantes „Divina Comedia“ (Purgatorio), zu stellen: „…bevor die Engel sangen, deren Sang nur Nachklang ist vom Lied der ewgen Sphären…“ . (es erübrigt sich da, über den Urknall nachzudenken!) Jedoch, um die Bodenhaftung nicht ganz zu verlieren, möchte ich einen Blick über die Landesgrenzen hinweg ins Badische Land werfen, nach Hausen zu unserem alemannischen Nachbarn und Dichter Johann Peter Hebel. Seine Größe lag in der Schlichtheit wie in dem folgenden Satz aus dem „Schatzkästlein“, der alles vorangehend Gesagte bestätigt: „Denn wir Menschen sind von gestern her; eh noch die Erde war, war Er, noch eher als der Himmel“.
Ute Stoecklin, Maison 44, August 2011
Quellenangaben:
Augustinus: Confessiones /Über die Musik (Tagebuchnotizen, ohne Seitenzahl
sowie Katalogtext von Arnold Stadler zu „Tageslinien“ von Dorothee
Rocke)
Nikolaus von Kues – Cusanus: De possest – Gespräch über das Seinkönnen (Reclam)
Olivier Messiaen: Musik ‐ Konzepte 28
Dante Alighieri: Divina Comedia, Purg. XXX, 92
aus: Hans Kayser „Akroasis“, S.7 (Schwabe &Co. AG Verlag Basel/Stuttgart)
Johann Peter Hebel: „Schatzkästlein des rheinischen Hausfreundes“
Die Absätze 4 und 5 der Einleitung (Perspektiven) wurden angeregt durch eine Sendung
„Sternstunde Philosophie“, SF 1 (Frühjahr 2011, Notizen ohne Datum)