Anne-Dominique Hubert


Kommentar zu Anne-Dominique Huberts Buch les hystériquesSilvia Henke, März 2015

Ich möchte meinen Kommentar zu diesem besonderen Bilderbuch der Hysterie / der Hysterikerinnen beginnen mit der gestempelten Frage auf dem Umschlag: Comment savoir qui je suis? Et pour combien de temps? 

Diese Frage stellt sich im Kontext der Hysterie seit jeher angesichts des männlichen Blicks. Martin Dean verweist in seinem Katalogtext auf den geschlechterübergreifenden Erkenntnisprozess, dem die Muster- und Tapetenfrauen von Anne Do Hubert geschuldet seien. Ich würde einfügen: Dieser Erkenntnisprozess ist auch geschlechstspezifisch. Es gibt keine Bilder, keine Überlieferungen grosser hysterischer Anfälle von Männern, sicher auch keine, die von Frauen dokumentiert wurden. Hysterie galt als weibliche Neurose – und hat sich verflüchtigt, ohne die Männer zu befallen. Als auch Fälle männlicher Hysterie bekannt wurden – insbesondere nach dem 1. Weltkrieg – wurde die Krankheit umbenannt zu „Konversionsneurose“ oder anderen Nosologien. Mein Kommentar – zu welchen mich Anne Do H. eingeladen hat – richtet sich auf diesen seltsamen Zusammenhang: dass man die Hysterie für etwas Festgestelltes hielt, eine Krankheit mit klaren Symptomen und dass man gleichzeitig nie sicher war, ob nicht alles nur gespielt, ein abgekartetes Spiel war, ein gekünstelter Zusammenhang zwischen Ärzten, Patientinnen und Fotografen. Dieser Hiatus zwischen der Annahme, dass es eine männlich-induzierte, eine erfundene Krankheit war - wie ihn die feministische Forschung kritisiert hat – und die Fasziantion auf den anderen Seite bilden den Boden von Anne-Dos sorgfältiger und liebevoller Beschäftigung mit der Hysterie. Sie nimmt damit einen Wanderungsprozess auf zwischen Krankheit und Kunst, der seit 1920 Programm wurde: André Breton hat die Hysterie für das „moyen supreme de l’expression“ gehalten.

Anne Dominique Hubert’s Hystériques sind den Zeichnungen von Paul Richer nachempfunden, jenen Zeichnungen, die er 1881 in der Salpêtrière, der legendären Nervenheilanstalt in Paris machte – in Begleitung zu den Experimenten von Charcot, dem grossen „Erfinder“ der Hysterie, bei welchem Sigmund Freud in Lehre war Ende der 80er Jahre – als er selber mit seinen Forschungen stockte und im Umkreis seiner konservativen Wiener Ärztekollegen auf wenig Zuspruch stiess für seine Annahme, dass es körperliche Leiden ohne klare medizinische Ursache gäbe.

Die Frauen in der Salpêtrière waren anders als Freuds Patientinnen Frauen der Unterschicht, Frauen ohne Beistand und Geld, irgendwo mit dem Gesetz oder der öffentlichen Ordnung in Konflikt gekommen. An ihnen wurden Geisteskrankheiten entdeckt – oder eben ausprobiert. Wichtigster Verbündeter in dieser Krankengeschichte war die Kamera. Der Einsatz von Fotografie in der Psychiatrie war ganz neu – und man traute dem Medium tatsächlich zu, dass es Krankheiten sichtbar und dingfest machen konnte. Das fotografische Archiv der Salpetriere enthielt Tausende von Abzügen. Jeder Krankheitsverlauf wurde fotografisch dokumentiert: man war fixiert auf das Wunder der Verwandlung und Veränderung, welche Patientinnen in der Klinik durchmachte. Man wollte psychische Leiden und deren Heilung sichtbar machen.

Wie aber konnte es nun, im Falle der Hysterie, zu den jenen grossen konvulsiven und exaltierten Körperposen kommen, die auch das Grundvokabular von Anne Dominique Hubert’s Hystériques ausmachen?

Ich würde sagen, es gab im Wesentlichen 3 Trigger:

  1. Chemische Substanzen. Die Patientinnen wurden systematisch mit Äther oder Amylnitrit „behandelt“, um Wirkungen auszuprobieren. Die Wirkungen waren Delirien, Halluzinationen, die notiert wurden. (Vgl. Anhang 20, Georges Didi-Huberman, Erfindung der Hysterie, S. 330)
  2. Theatralische Suggestionen: skulpturale Momente und die Rolle einer wechselseitigen Suggestion und Imagination bei der „Aufführung“ der Krankheit (vgl. Ebd. S. 331)
  3. Die Wirkung der Kamera selbst. Ein Fotograf nahm ab 1874 festen Wohnsitz in der Klinik und fotografierte systematisch die Kranken – als eine Form von PR für die Klinik publizierte er die Bilder in wissenschaftlichen Bänden als Iconographie photographique de la Salpêtrière - 1880 erschien schon der 3. Band. Er war also dauernd auf Bilderfang. Mit wenigen Frauen – jenen, die die Hysterie eben am besten spielen konnte – dokumentierte man dabei auch immer wieder den „grossen Anfall“ in all seinen Stadien Bild für Bild, Pose für Pose. Aber eben: nicht als Spiel, sondern als Krankheit. Man wollte eigentlich auch das, was Paul Richer in seinen Zeichnungen so differenziert ausgebreitet hatte, wieder zurückholen ins Medium der Fotografie, die den höchsten Wahrheitsanspruch erfüllte.

Das schöne Paradox: Das Hauptmodell, Augustine, muss wie die Ärzte gewusst haben, dass es hier um eine Inszenierung ging, aber beide haben am Set festgehalten. Augustine, weil sie Liebe und Beachtung wollte, die Ärzte, weil sie wissenschaftliche Entdeckungen machen wollten. Dass Augustine eines Tages einfach aus der Klinik entwichen ist und ein ziemlich normales Leben führte, spricht für die Flüchtigkeit der Krankheit selber.

Das ganze Drama und Missverständnis dieser Konspiration hat die feministische Kulturwissenschaft und haben Forscher wie Lucien Israël und Georges Didi-Huberman minutiös aufgearbeitet. Allerdings – um damit komme ich zu Anne Dos Hystériques zurück – ohne die Faszination des Phänomens zu tilgen. Man kann nicht fertig werden mit der Hysterie und dieser merkwürdigen Schnittstelle, die sie bietet als Spektakel und Erlebnis zugleich- zwischen eingebildetem und realem Körper. Anne Dos Tapetenfrauen und die Hingabe, die sie ihnen als Künstlerin zukommen lässt, transportiert etwas von dieser anhaltenden Faszination. Dem Auftauchen in Mustern, dem Verschwinden in Mustern, der Schönheit und der Suche nach einem „Krankheitsmuster“, das den unerträglichen Zuständen eine Form geben könnte. Das Gestickte und Blumige, in dem Anne Do die Frauen präsentiert, macht die alten Protagonistinnen der Hysterie nicht zu Heldinnen, aber auch nicht zu Opfern. Es ist eigentlich ein eigener, sehr subtiler und kenntnisreicher Kommentar, den sie mit ihrer Arbeit und dem Buch nun liefert, in dem dieses Bündnis von Krankheit und Kunst in seiner ganzen Merkwürdigkeit und Schönheit anerkannt und gleichzeitig ironisch re- montiert, reinszeniert wird. Das Pathos der fotografischen Inszenierung wird dabei gebrochen, die gnadenlosen Realitätseffekte der pathologischen Fotografie werden zurückgenommen zugunsten einer allgemeineren Schmerzpoesie des Weiblichen, das sich im Ornament versteckt, aber nicht wirklich zu Ornament werden kann. Es bleibt: Gestalt, Hinterlist und auch ein leichter Triumph darüber, dem identifizierenden Blick zu entgehen. So steckt in der Frage nach dem selbst – Qui suis-je? immer auch ein Zwang zum Zauber –Blatt für Blatt, in in jeder Tapete neu.

Dr. Silvia Henke
Prof. für Kulturwissenschaft
Hochschule Luzern Design & Kunst