Anne-Dominique Hubert


Rede zur  Eröffnung der Austellung  „Personne“  von Anne-Do Hubert im Haus Te Gesselen, Kevelaer am 6.Juli 2003.


Eigentlich hatte ich gedacht, dass wir uns bei dieser Einführung in dem Raum befänden, der diesem vorausgeht: der hohe Raum mit dem Rundbogenfries. Hinter mir sähen sie dann jetzt eine andere Arbeit von Anne-Do Hubert als diese hier.  was ich aber nicht wusste, ist, dass nur eine begrenzte Anzahl diesen Raum betreten darf. Aufgrund der doch so zahlreich erschienen Gäste sind wir nun unterm Dach. So bitte ich Sie nun, mir im Geiste durch die Räume zu folgen, die unter uns liegen.

In eben jenem Raum, dessen Innenwände in der ehemaligen Burganlage die Aussenmauern darstellten, sind in den Zwickeln des romanischen Rundbogenfrieses fratzenhafte Gesichter angebracht.  Die rote Farbe des Backsteins und die farbigkeit der Masken scheinen von Anfang an aufeinander abgestimmt zu sein. Als ich das zum ersten Mal gesehen habe, habe ich mich gefragt, wie ist es möglich, dass diese Gesichter, die vor drei Jahren entstanden sind, und dieses alte Gemäuer so gut zueinander passen? Sie bilden eine Symbiose, dass man fast meinen könnte, die Masken wären immer da gewesen!  Hier wird eine Zeitspanne von fast 750 Jahren überbrückt und es gelingt. Die Antwort auf die Frage, woran das liegt, lässt sich in unserer kulturellen Erfahrung und in unserer Erinnerung finden. Wir haben in unserem Erfahrungsraum derartiges schon mal gesehen. Es ist uns vertraut. Und doch bleiben viele Fragen offen: Was sind das für Gesichter? Sind es Babys? Kleinkinder? Oder sind es Greise? Sie erscheinen alterslos und trotz des vertrauten Platzes, den sie innehaben, erscheinen sie fremd.

Im Gegensatz zu diesen dreidimensionalen Gesichtern sind es bei der Seidenkissenarbeit, in einem der mittelalterlichen Wohnräume unter uns, die eingearbeiteten Photos, die wir betrachten. Es sind Abdrücke von elf Kindergesichtern, die durch Stickarbeiten ergänzt wurden  und dadurchplastisch und haptisch  erfahrbar werden; Sie werden sehen, dass sich die Wangen wölben und die Konturen durch die Stickerei hervorgehoben werden. Jedes einzelne Gesicht ist „in Seide gebettet“, wie auch ihr deutscher Titel heisst.
Was man dort wunderbar sehen kann, ist, dass Anne-Do Hubert, obwohl wir uns im Zeitalter der Manipulierbarkeit durch Computer befinden, dem Material treu bleibt. Sie wählt eine durch das Material hervorgerufene, ursprüngliche Ausdrucksform. Ausgehend von der Photographie, überträgt sie Bilder auf andere Medien. So auf Japanpapier oder wie hier auf feinsten Seidenstoff.  Aber eben nichtdigital verändert oder in irgendeiner Form computerisiert. Nicht alle Gesichter behalten ihre Schärfe, die sie auf den Photos wahrscheinlich hatten. Sie werden durch den Abdruck unklarer und verschwommener, es bleiben nur Spuren der abgebildeten Personen; bei einigen könnte man auch hier die Frage stellen, ob es sich überhaupt um Babys handelt. Oder ob nicht auch hier Aeltere und Alte dazwischen sind. 

Gleichzeitig findet ein Ausgriff auf ein bewegendes Heilversprechen statt, das wir historisch von der Heiligen Veronika bekommen haben. Veronika, die uns das vera icon, das wahre Abbild Christi, des leidenden heils, mit auf den Weg gegeben hat. Sie hält ihr Schweisstuch in ähnlicher Weise, wie hier die Seidenkissen an der Wand angebracht sind. 
Die Darstellung auf Seidenkissen schafft eine grosse Intimität. Seide hat die Fähigkeit sich dem Körper anzuschmiegen und ist gleichzeitig äusserst kostbar. Wann wird man auf so edlem Stoff gebettet? Am Anfang des Lebens bei den ganz kleinen und dann wieder ganz zum Schluss, bei den Toten im Sarg.
Das Behütet-Sein steht dem Ausgeliefert-Sein gegenüber.


Wer den Katalog zu dieser Ausstellung studiert, wird bei der Biographie der Künstlerin entdecken, dass sie sich 1993 in einer Soloperformance mit Zikaden auseinandergesetzt hat. Im Gesprächzu dieser Ausstellung hat sie mir von diesen erstaunlichen Tieren erzählt. Ich möchte es dehalb an dieser Stelle wiedergeben, da eine Entwicklung sichtbar gemacht werden kann, die zu den petites personnes oder den sogenannetn Hüllenwesen beigetragen hat:  Es ging um Singzikaden, die einem besonders in Südeuropa begegnen: jeder kennt den schrillen Gesang, der an heissen Sommertagen die Luft erfüllt.  Das Interessante an diesen Insekten ist ihr Werdegang vom Ei zur fertigen Zikade, der zwischen fünf und sieben Jahre andauern kann. Die Larven leben in all diesen Jahren unterirdisch und bewegen sich mit kräftigen Grabbeinen vorwärts. Nach fünf bis sieben Jahren begeben sie sich dann an die Erdoberfläche und manchen eine bemerkenswerte Entwicklung durch: sobald die Tiere die Erdoberfläche erreichen, lernen sie Sehen, eine Eigenschaft, die sie unter der Erde nicht benötigen. Und wenn das Klima die erforderlichen Voraussetzungen bietet, kriechen sie heraus und brechen ihren Chitinpanzer auf, der sie unter der Erde geschützt hat.  Unter dieser Hülle kommen sie als fast fertige, noch etwas milchige Wesen hervor. Denletzten Rest zur Vervollständigung bringt das Sonnenlicht. An den Aesten nach unten hängend trocknen sie und dann können sie unmittelbar fliegen, zirpen und sich vermehren. Zurück bleibt die hellbraune, fast transparente Chitinhülle, die die Larve umgab. Sie ist der perfekte Abdruck ihrer ehemaligen Bewohnerin, die diesen Schutzmantel nun nicht mehr benötigt, da ihre Metamorphose zu ihrer endgültigen Gestalt vollbracht ist.

In ihrer Performance hat Anne-Do Hubert Bilder entworfen, die für sie das Problem der Wandlung kennzeichnen. Das Erlangen eines neuen Stadiums, das zum Veerlust einer bis dahin bewohnten Form zwingt. Und dann die Idee der verlassenen Form, der Hülle. Genau diese Thematik finden wir auch bei den petites personnes, diesen kleinen Figuren.
Die jetzigen erkennbaren Formen sind Hüllen, die sich auf Ursprünge in Ton beziehen, die die Positivformen ausmachten.  Durch verschiedene Abdruckverfahren gibt die Künstlerin ihnen die Gesatlt, die wir unten betrachten können. Oder auch hier, hinter mir, vor griechischem Himmel im Freiluftatelier der Künstlerin photographiert.
Hier können wir die Körperlichkeit dieser Gestalten sehr gut wahrnehmen.
Sie stehen nicht fest, sie machen Verrenkungen, die teilweise auch akrobatische leistungen erfordern. Dabei geht es um einen emotionalen Körperausdruck. Es sind keine funktionalen Gesten, sondernFragmente von Bewegungen. kein Verharren oder Stillstehen. Fliegen sie? Schweben sie? Oder fallen sie?
Sind es Frauen oder Männer? Sind es geschlechtlose Wesen? Sie sehen gleich und doch verschieden aus. Figuren, die als Einmalige unterscheidbar sind, bei denen wir aber nciht sicher sein können, dass wir sie als jemand wiedererkennen.

Es sind zarte, fast transparent erscheinende Wesen, deren Hälften und Extremitäten von Fäden zusammengehalten werden und deren, teils nur angedeutete,  Gesichter ähnlich wie bei den Seidenkissen Abdrücke von Photographien sind: Japanpapier, das den Anspruch der Künstlerin am deutlichsten ausdrückt. Dieses Material erfordert grosse Sorgfalt und Geduld, da es leicht reissen kann.Aufgrund seiner Beschaffenheit faltet es sich bildlich wie menschliche Haut. Nicht nur ihre kleine Grösse, sondern genau dieses fast durchscheinende und zarte Material lässt die Hüllenwesen so fragil erscheinen. Und doch beinhaltet die Idee der Hülle auch immer etwas Schützendes, Ummantelndes, Stabiles.
Es sind Hüllen um etwas, was mal da gewesen ist, etwas, was wir aber nicht sehen. Der Abdruck etwas Abwesenden. Durch genau diesen Abdruck ist das Abwesende aber auch anwesend.
Bei manchen fehlen Teilstücke, die nur durch die Fäden überbrückt werden. Und doch ist unser menschliches Gehirn so geübt, dass wir die fehlenden Teile mit unserer Phantasie vervollständigen.  Gleichsam wird hier die Leere eingefangen und zusammengenäht. Dadurch erhält sie Raum, der gleichzeitig unbewohnt und bewohnt ist.

Diese Bildwelt findet sich auch im Titel dieser Arbeit und im Titel der gesamten Ausstellung wieder: Personnes, im Französischen kann dies sowohl „jemand“ als auch „niemand“ bedeuten. Zwei Gegensätze vereint in einem Ausdruck.  Und genau das ist es, was für mich die Kunst von Anne-Do Hubert ausmacht: Gegensätze, die sich bedingen. Und wenn dieses gegenseitige Bedingen nicht mehr stattfindet, lösen sich die Gegensätze auf.

Nun möchte ich Sie einladen, in diesem Sinne die Präzision der Arbeiten Anne-Do Huberts, aller ausgestellten Arbeiten, wahrzunehmen.

K. Kosseleck, Kunsthistorikerin    Te Gesselen 6. Juli 2006