Dunkle Gestalten auf hellem Grund, von Wind und Wetter gezeichnet. Wo und was ist das? Felsmalerei aus prähistorischer Zeit? Schriftzeichen einer fremden Kultur? Erste Versuche der Orientierung. Um Dinge wahrnehmen zu können, greift das Gehirn auf vertraute Muster zurück, denn Erkennen ist immer auch ein Wieder-erkennen, die Erinnerungen kommen ungerufen.
„Das Dunkle könnten Schatten sein, ich sehe Fotografien von Schatten“, sagt der Verstand. Etwas Flüchtiges ist zu einer bleibenden Spur geworden von etwas, das unsichtbar bleibt. Was er-kenne ich? Abwesendes ist sicht- und spürbar, aber was? Die Anwesenheit der Schatten beunruhigt, es ist schwer zu ertragen, nicht zu wissen.
Jede Antwort bleibt vorläufig, mit jeder kommen neue Fragen auf. Wovon erzählen diese Schattenwesen, in welcher Beziehung stehen sie zueinander, was ist dieser Grund auf dem sie liegen, von welchem Licht werden sie erschaffen? Wer waren sie, bevor sie Schatten wurden? Wer sind sie, wenn die Nacht sie verschluckt? Was bleibt von ihnen im grellen Licht des rationalen Denkens?
Augenscheinlich handelt es sich nicht um bekannte Schatten, aber gerade damit kommen sie den Betrachtern möglicherweise sehr nah. Jeder hat seinen Schatten, der zeitgleich bei ihm ist, meist hinterrücks und unvertraut, gerade dann, wenn es viel Licht gibt. Der Schatten ist die Personifikation von etwas Eigenem, das einem immer folgt, meist ohne daß man sich dessen bewusst ist, er verhüllt also nicht nur, sondern er offenbart auch Wesentliches.
Alle Schatten, nicht nur die persönlichen, sind immer bezogen auf etwas Lichtes und führen dennoch ein düsteres Eigenleben. Wie Nomaden sind sie ständig unterwegs. Sie ziehen durch Zeiten und Räume, die sie für Augenblicke besetzen und verändern, um zugleich weiter zu wandern, sie kehren zurück im Verlauf der Stunden, Tage, Nächte und Monate, aber nicht, um zu bleiben. Schatten kann man nicht besitzen, sie bleiben namenlos, sie kommen und gehen über uns hinweg, wir durchqueren sie. Über den eigenen Schatten springen können wir allerdings nicht, er wandert mit. In der Finsternis werden wir selbst zu Schatten, wie im Hades, der trostlosen Totenwelt der alten Griechen.
Die Schattenbilder von Anne-Dominique Hubert bilden eine Lichtung in einer dichten Reihe von natürlichen Phänomenen, die sie in ihrer künstlerischen Arbeit vor allem in griechischer Landschaft erkundet und gestaltet hat. Am Anfang dieser Suchbewegungen draußen im Freien war die Faszination für die Zikaden, ihr Werden, Vergehen und Wiederkehr. Ihr Gesang, der in heißen Sommertagen ohne Pause alles übertönt und durchdringt, ist in die Bilder und Gestaltungen jener Jahre eingegangen, das „Gesichterfeld“(1) eine Arbeit über Emotionen, als innere und äußere Natur, ist davon geprägt.
Die kleinen „Hüllenwesen“ oder „personnes“ (2) aus Papier, Vorgänger der „Femmes de lettres“ (3) sind von den Verwandlungen der Zikaden inspiriert, sie wurden im gebrochenen Licht der Olivenbäume geformt und auf dem heissen Boden getrocknet. Zeitspuren, Zeitverdichtung und Zeitlosigkeit, Sonnenbahn und Mondlicht sind rote Fäden, die alle Arbeiten dieser verschiedenen Jahre verbinden, erdenschwer und federleicht.
Seit einiger Zeit versucht die Künstlerin nun, den Schatten auf die Spur zu kommen. Ausgangspunkt waren überlieferte Texte von Ordensfrauen aus dem Mittelalter (Mystikerinnen) deren Gedanken Wort für Wort in Hand-Schrift-Sprache transformiert wurden, um dann wieder aus dem Kon-Text gerissen zu werden und schließlich eine neue Form und einen neuen Sinn zu finden in fragmentierten Figuren aus Japan-Papier. Diese Frauengestalten wurden zunächst schemenhafte Gestalten der Nacht, schwebten zur blauen Stunde als zarte Flugwesen in den Morgenhimmel und kehrten im Laufe des Tages aus der Sonne zurück als Schatten auf weißgekalkten Grund - jene Schatten, die uns nun, im Foto fixiert, zum: „denk mal“ anregen. Worte, aus ihrem Zusammenhang gefallen, kehren ins Schweigen zurück. Zu dunklen Gestalten verdichtet, erinnern sie an die un-heimlichen Tiefen der Welt und erzählen zugleich auch ganz andere Geschichten von der Leuchtkraft der Sonne, von offenen Räumen und der Leichtigkeit des Seins.
Schatten haben manches gemeinsam mit Erinnerungen. Sie kommen überall vor und bilden Ketten von Ereignissen, die sich mit der Intensität des Lichts verändern und wandern mit den Tageszeiten; sie verschwinden und erscheinen wieder, regelmässig und unberechenbar. Man kann sie vorübergehend anhalten im Foto, aber festhalten, aufhalten? Für mich sind es traumhafte Bilder, die der Entzauberung unserer verödeten Welt entgegenwirken. Welche Metamorphosen werden sie noch durchlaufen, wohin führen sie unsere Phantasien?
„Die Gedanken sind frei. Wer kann sie erraten.
Sie fliegen vorbei, wie nächtliche Schatten.......
Wer weiß, was es sei? Die Gedanken sind frei“.
Ulf Bolland Februar 2009
Anmerkungen:
(1) „champ de visages“ (2001), ein Block von ursprünglich sieben mal sieben maskenhaften Köpfen aus Papier, die die Gesichter der sieben Grund-Emotionen darstellen: Staunen, Ekel, Angst, Trauer, Freude, Erschrecken und Ruhe.
(2) „personne“ (2002) 39 hüllenartige kleine Körper aus Japanpapier, mit menschlichen Formen.
(3) „femmes de lettres“ (2004), 22 anthropomorphe Figuren, hergestellt aus Liebesbriefen der Mutter der Künstlerin