Anne-Dominique Hubert


Rede zur Ausstellung  „ VOR – WORT   NACH – SCHRIFT“ 
Vernissage  Galerie  „Altes Rathaus“  Inzlingen  18. März 2007

       
Meine Damen und Herren,

Auf dem Weg in diesen oberen Raum der Galerie haben sich Ihnen gleich zweimal Anne-Dominique Huberts Figuren zugewandt. Im Eingangsbereich werden Sie das Empfangskomitee der hellen, weiblichen Gestalten, die weite Geste der einen vordersten Frau, zumindest aus der Ferne wahrgenommen haben. Beim Ersteigen der Treppe sind Sie erst auf Augenhöhe, dann mit gesenktem Blick der Schar jener Kleinen gegenübergestanden.

Als antropomorph körpersprechende Formen dürften beide Werkgruppen in Ihnen zunächst zwischenmenschliche Regungen – welcher Art auch immer: Rührung, Scham, Distanz – zum Schwingen gebracht haben. So auch bei mir. Doch jenem biographisch und emotional geprägten ersten Blick folgte das Nachschauen, das in ein Fragen mündete. Sind das noch Menschen? Sind das schon Menschen?

Zumindest die Frauen präsentieren sich unzweifelhaft als Individuen: unterschiedliche Grössen, Körperformen und Gesten, gar ein modisches Detail ab und an, die Andeutung einer Haube oder einer Frisur. Zwei spielen Mann und Frau, ein trautes Paar, eine zieht die Einsamkeit einer Nische vor, um uns ein zartes Bittgesuch anzutragen. Die grosse Gruppe: ein weiblicher Gegenentwurf zur Terrakottaarmee im Mausoleum des ersten chinesischen Kaisers Quin Shi Huang Di, wo in der Tat kein Soldat dem anderen gleicht. Doch dann die Gesichter: völlig unwägbar, was in diesen Köpfen vorgehen mag. Archaische Koren, gotische Portalengel, etruskische Grabskulpturen kommen in den Sinn, zwischenweltliche Gestalten, nicht ganz hier, nicht ganz fort.

„Die Unvergessenen“ - so ein früherer Name dieser Werkgruppe Anne-Dominique Huberts - sind Individuen insofern, als in ihre Entstehung Briefe eingegangen sind, autographe, wahre, atmende Briefe, Liebesbriefe – Briefe der Mutter der Künstlerin, der Tochter einst zur Vernichtung übergeben. Es wurde eine langsame, sanfte Vernichtung, aus der etwas Neues entstand: Die Unvergessenen, nicht: Die Unvergessene, auch wenn persönliche Memoria im Entstehungsprozess eine Rolle gespielt haben wird. Individuen sind es, wie jeder einzelne, nun verkörperlichte Brief die Stimmung einer bestimmten Stunde, eines dunklen oder heiteren Tages, eines glücklichen, müden, überschwenglichen oder melancholischen Geistes und Leibes in sich trug. „Vendredi“, eines der Worte, dass uns aus dem Verschwimmen der anderen entgegen strahlt, einverleibt in die Andeutung einer Taille, „passionement“ ein anderes, „amour“, letzte Dinge, Gewichtiges. Zerpflückte Sätze auf zerpflückten Körpern, Leerstellen hier und dort, die Einheit ist hin oder war stets eine Illusion – aber sehen Sie diese Leichtigkeit, mit der uns das entgegentritt!

Ein doppeldeutiger Ausdruck französischer Zunge benennt es genau: „Femme de lettre“ – die Verfasserin der Briefe, die Dichterin der einst tintenklaren Worte ist eingegangen in jene beredten, durchsichtig-undurchsichtigen Briefe-Frauen, an denen ihrerseits nichts bleibt, wie es ist: Es sind keine Marionetten, sie stehen für sich, aber jeder Standort und jeder Lichteinfall und noch die kleinste Veränderung in der Neigung eines Kopfes oder der Haltung einer Hand entlassen eine neue Frau in unser Leben. Und die Arbeit dauert an: durch das langsame Verblassen der Schrift ereignet sich nach und nach die vollständige Verkörperlichung der in den Briefen einst bewahrten Stimmen. Es bleiben die beredten Gesten, wortlos geworden, dereinst.

Kein Freitag wie der nächste. Man steigt nicht zweimal in denselben Fluss. Blick und Sinn schweifen ins Blau, das Gottfried Benn als „Südwort“ beschwor. Vor griechischem Himmel, im Übergang zwischen Tag und Nacht, tanzt eine der Unvergessenen; das gleissende Licht beschleunigt die Metamorphose von Körper und Schrift. Transitorisches Wirken allenthalben: Statik und Stand der Statue sind gänzlich aufgehoben. Die Photografien entlassen ihrerseits ein Neues: Es sieht aus wie entstehendes Leben, es führt zurück zum Ursprung, die Doppelhelix am Himmel des Mythos.

Hier, im Inzlinger Licht scheint eine Treppe hinauf die Schar kleiner Gestalten tatsächlich solche Assoziationen zu bestätigen. Ein einziges grosses Staunen schaut uns an: Heb mich hoch und herze mich! Aber dann: Sind das noch Menschen? Sind das schon Menschen? Fraglos ist: dies sind unbeschriebene Blätter. Kaum geformt, auf Eindrücke wartend. Philosophische Teletubbies - kein Entertainment. Wir sind gefragt, uns zu diesen zu verhalten. Kindliche Greise – greise Kinder. Tatsächlich näher am Nicht-Sein als am Sein: Erinnern die mancherorts erhobenen Arme nicht mehr an die Oranten der frühchristlichen Katakomben als an ein Kind, das sich uns nach seinem ersten Schritt entgegenreckt? Alle Ambivalenzen münden erneut in einer sprachlichen Doppeldeutigkeit: „personne“: das ist französisch „jemand“, aber auch „niemand“, wie der Ursprung des Wortes Person in der stilisierten Maske des griechischen Theaters liegt, durch welche das Individuum tönt, wie Odysseus, der sich als „Niemand“ vor dem Zyklopen zu retten vermochte, wie der deutsche Student, der sich kürzlich unter die Terrakottasoldaten mischte und lange unerkannt blieb in der Masse. Eine winzige Fuge liegt zwischen Jemand und Niemand; auf sie weisen uns diese Wesen hin.
Anders die Artisten: Metamorphosen der „petite personne“. Der Reihung enthoben, leicht und licht. Unterschiedliche Flugfiguren, gedoppelt im Schattenwurf, ergeben Eigenart. Zur Körpersprache kommt Gesicht: Photografien von Kleinkindern scheinen vage durch das weisse Lagenwerk, einverleibt wie die Briefe in die Körper der Femmes de lettres. Vehementes Wirken der Zeit: Stillgestellt der akrobatische Moment, stillgestellt das Altern jener echten Kinder auf den verwerteten Bildern. Für immer im Überschwang - ist das der Ursprung dieser Heiterkeit?

Auch die „Femmes de lettres“ haben derweil eine weitere Metamorphose durchlaufen. Die Werkgruppe im Nebenraum bezeichnet ein letztes Innehalten im unaufhörlichen Prozess der Transformation von Schrift zu Leib. Es sind Photografien von Körperteilen der Briefe-Frauen, im Gegenlicht geschossen, auf Stoff gedruckt und zu Kissen verarbeitet. Und sehr entschieden holt Stickerei einzelne der verbleichenden Tintenzüge zurück ins Licht, das diesem Medium harmlos ist. Geborgen aus dem Verborgenen: wie im Futter eines Schatzkästleins liegen nun die fast schon verlorenen Worte, und kommen zur Ruh. Doch dann geschieht etwas Seltsames: Auf den Kissen, die ja wieder halb zurückführen vom Leib zum Brief, vom Räumlichen ins Flache, ergibt sich plötzlich der Eindruck von Haut: Vertiefungen und Wölbungen, die Töne des Fleischs, Falten und Furchen - die Schrift der Haut. Die Tintenworte darauf: Namen und Nummern, Denkzettel, die man sich als Schulkind in die offene Hand hineinschrieb und die dann langsam fortgeschwitzt wurden. Ganze Hautlandschaften, wenn mehrere der Kissen aufeinandertreffen. Haut, wie es die papierne Oberfläche der Briefe-Frauen niemals war, auch dies geborgen aus dem Verborgenen. So kommt auf dem Weg zurück zur Schrift doch zuletzt der Körper zu seinem Recht.

Und das Gedächtnis des Körpers ist ungemein klar. Es war ein schöner Apriltag in Rom, als ich mir beim Teilen eines hartkrustigen Brötchens in die Fingerkuppe schnitt. Das Morgenlicht in diesem Raum, wer dabei sass, selbst, welchen Pulli ich trug – all das ist präsent, wenn ich mir heute, nach gut 10 Jahren die Narbe betrachte, die damals entstand, und die ich manchmal noch spüre, wenn ein bestimmtes Wetter ist. Haben Sie eine Narbe? Sie werden wissen, was ich meine. Die Narbe als ein Moment grosser Gegenwärtigkeit ist Ausgangspunkt der Werke, die Sie in diesem Raum um sich sehen. Es sind Photografien von Narben, auf Seide gedruckt. Eigen wie die Narbe und ihre Geschichte sind auch die Töne der Haut - hier nun tatsächlich: ein fahles Rose, ein zartes Grau, ein hitziges Rot. Darin die Narben: oft kaum zu sehen – wie im Nebel verschluckt und vergangen, tatsächlich ja mit der Zeit beinah wundersam geglättet und geheilt. Doch wo es einst klaffte, wo Innen und Aussen aufeinandertrafen, steigen Worte auf, mit denen Menschen die Entstehung ihrer Narbe erinnern. Stickwerk - das ist: eine Narbe, der Seide zugefügt - bringt es ans Licht, was für immer tief eingeschrieben ist: Wehmut, Gefallen, memento mori, faire mal: oft mehrdeutig, halbbewusst – delphisches Orakel, wo über dem Erdspalt das Medium sitzt - die Narbe entlässt es ins Jetzt.

Sticken, Nähen, Säumen, Seide - Tochter, Mutter und Pythia - weisse Einzelteile des Körpers im Puppenbaukasten, Schnittmuster aus Papier - Heilen und Betten: Anne-Dominique Huberts Arbeiten assoziieren, eignen sich an und definieren neu, was als weibliches Leben, Spielen und Handwerken gilt. Darin und in der Frage nach der Identität überhaupt finden sie fraglos Schwestern im Reigen künstlerischer Positionen der Gegenwart – jedem mögen da eigene Namen und Bilder kommen.
Langsames Arbeiten mit der Hand, prozesshaft, schichtend, trifft auf den schnellen, unpersönlichen Lidschlag der Fotografie. Zeitliches Wirken, manipuliert und sichtbar gemacht, ist das Verbindende aller Werke hier – Interaktionen von Körper, Wort und Schrift das, wo es wirkt. Vergangenheit und Gegenwart der Briefe und Narben, Individuation, die innehält, Licht zwischen Tag und Nacht, Vor und Nach - Metamorphosen am einzelnen Werk, Metamorphosen der Werke und ihrer Namen  von Ausstellung zu Ausstellung und auch: wie alle Werkgruppen auseinander entstehen und ineinander übergehen.

Noch einmal Griechenland, und hier, in der Galerie zurück in den unteren Raum. An den Wänden, rund um die Unvergessenen, eine letzte Variante von Schrift: Terrassenbelag, immerhin Beton, dennoch durch Erdstösse, Menschenschritt, heftige Wechsel der Temperatur zum Klaffen gebracht. Immer wieder einmal schreibt es sich ein: Boden-Biographie. Die Nachlese Anne-Dominique Huberts – es ist eine, wo weibliches Handwerken nachdrücklich ruht - entlässt in Gips einen Archetypus von Spur, der in Kunst und Natur viel Verwandtes hat: Gewitterblitze, Rillen im Sand, die ersten Bilder des Menschen, wie wir sie heute in Höhlen sehen. Nur sind die steinernen Risse so langsam, so schwer. Die Arbeit der Künstlerin gibt ihnen Dauer und Ruhe, die sie dennoch in Wirklichkeit niemals finden. In der Mitte, auf den Körpern der Frauen, vergehen derweil die Worte.


Iris Becher, Kunsthistorikerin, Basel (Mail: irisbecher@gmx.de)
Intzlingen  18. März  2007